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Leistungsanforderung und Leistungsbereitschaft auf dem Rückmarsch?

Posted in Bildung, GU = Gemeinsamer Unterricht, Inklusion, Lernen, Nachdenkliches, Schule, and Standpunkt

   Es mag nur ein Eindruck sein, möglicherweise ist es aber auch ein Trend, der sich schon seit Jahren unbemerkt abzeichnet und nicht richtig wahrgenommen wird.

   Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Schüler im 4. Schuljahr ungeübte Diktate mit 120 Wörtern geschrieben haben. Das waren nicht immer leichte Texte, aber die Ergebnisse durchaus passabel. Heute kann ich mir das nicht mehr vorstellen. Davon abgesehen sind Diktate in dieser Form die Ausnahme heute. Ob das so nicht zu beanstanden ist? Immerhin war damit auch Übung verbunden und ohne Übung verfestigt sich manches nicht. Das gilt sicherlich auch für die Rechtschreibung, die, so hört man die Klagen aus Wirtschaft und Uni, immer mehr im Argen liegt.

   Das grundlegende Wissen allgemein ist ein anderes geworden. Partielle Kenntnisse zum Beispiel in Geschichte sind vorhanden, aber von einem Überblick, der nicht einmal mit den genauen Jahreszahlen verknüpft sein muss, kann man heute nicht mehr reden.
Das liegt sicherlich auch an den ausgedünnten Richtlinien und Lehrplänen. Dies ist auch in anderen Wissensgebieten erkennbar.

   Sicherlich ist heute ein anderes Lernen gefordert. Lebenslang und selbstbestimmt! Das muss meines Erachtens aber nicht heißen, dass generelles Wissen verloren geht oder nicht mehr vorhanden ist.

   Ich erinnere mich noch gerne daran, als ich mit meinen Schülern an dem Projekt Mittelalterstadt Köln gearbeitet habe. Es gab selbst in den Sommerferien keine Arbeitspause. Vor den Ferien haben die Arbeitsgruppen untereinander die Aufgaben verteilt. Dann kamen die Beiträge aus den Urlaubsgebieten und wurden in unseren virtuellen Klassenraum eingestellt. Aus den USA, aus Korea, aus Spanien, aus Italien und ich weiß nicht mehr woher. Eines meiner letzten großen Erlebnisse in diesem Bereich. Sicherlich hatte es auch etwas mit der Art des Lernens zu tun und mit der Art der Auswahl des Lernstoffes. Die Interessenslage der Schüler war getroffen! Selbstständiges Arbeiten, recherchieren, besprechen, verwerfen, schreiben und zeichnen waren selbstverständlich. Leistungsstarke und leistungsschwächer Schüler arbeiteten zusammen und bereicherten sich gegenseitig. Funktionierende Inklusion, ohne dass man das thematisieren musste. Nur geschehen lassen musste man es. Wunderbar!

   Auch das genaue Gegenteil habe ich kennengelernt. Jegliche Rücknahme einer Leistungsanforderung mit der Begründung: Das kann der arme Junge doch nicht! Der hat es doch schwer! Zu Hause kümmert sich niemand um ihn!

   Dass auch eine Leistungsforderung eine Stabilität in einem ungeordneten Leben sein kann, wurde dabei leider nicht erkannt. Dies war dann meist zum Nachteil der gesamten Lerngruppe. Leistungsanforderung hieß in diesem Zusammenhang nur, die erforderlichen Sachen dabei, einen kurzen Text geübt zu haben. Nichts weltbewegendes und nichts, was ein Grundschulkind nicht auch hätte aus eigenem Antrieb leisten können. Kuschelpädagogik nannte man das. Die Unterlassung jeglicher Leistungsanforderung! Auch für den Lehrer?

   Leistungsbereitschaft und Leistungsforderung, so meine Beobachtung, werden immer mehr zurückgefahren. Interessanterweise trotz der Ängste der Eltern, die ihre Kinder aufgrund der vermeintlich besseren Zukunftschancen alle auf dem Gymnasium sehen wollen. Das scheint vordergründig auch zu klappen. Immerhin liegt NRW bei den Abiturienten circa 10% über dem Schnitt der anderen Bundesländer. Das, obwohl bei den Bildungsvergleichen NRW meist auf den hinteren Rängen zu finden ist.

   Wenn also meine Beobachtung stimmt und Leistungsanforderung und Leistungsbereitschaft immer mehr abnehmen, so kann die Ursache dieser »Abiturientenschwemme« womöglich nur in der immer weiter zurückgeschraubten Anforderung durch Richtlinien und Lehrpläne liegen?

   Eine weitere Beobachtung in diesem Zusammenhang betrifft unser dreigliedriges Schulsystem.

   Abgesehen davon, dass es gegenwärtig auch das Modellvorhaben Gemeinschaftsschulen gibt, bleibt die Dreigliedrigkeit erhalten. Gemeinschaftsschulen sollen ähnlich, wie es in Grundschulen funktioniert, durch längeres gemeinsames Lernen das »Bildungssystem gerechter und leistungsstärker« machen. Grundsätzlich will ich darauf im Moment nicht näher eingehen, halte diesen Ansatz allerdings für falsch. Warum werden, wie man heute so schön sagt, die in der Grundschule aufgebauten sozialen Netzwerke aufgegeben, um in einer Gemeinschaftsschule neue zu bilden. Einfachheitshalber hätte man einfach die Grundschulzeit verlängern können.

   Unabhängig davon, dass es Gemeinschaftsschulen, Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien gibt, so hat sich deren Leistungsanforderung ebenfalls geändert.

   Provokativ stelle ich einfach einmal diese Behauptung auf:

   Die Sonder- bzw. Förderschule, wie man sie heute nennt, hat die Funktion der Hauptschule übernommen.
   Die Realschule die der Hauptschule und das Gymnasium die der Realschule.

   Das heißt, dass die Leistungsanforderungen inzwischen so weit heruntergeschraubt worden sind, dass das Gymnasium nur noch ehemaliges Realschulniveau am Ende der Schulzeit vermittelt hat. Diese Situation wird durch eine Schulzeitverkürzung auf G8 sicherlich nicht besser. Zumal damit eine weitere Ausdünnung der Richtlinien und Lehrpläne einhergehen soll, wie aus dem Ministerium mitgeteilt worden ist.

    Selbstbestimmtes, selbstständiges und lebenslanges Lernen erfordert allerdings andere Schwerpunkte als die weitere Rücknahme der Leistungsanforderungen. Unsere Schüler sind leistungsstark! Man muss sie nur ein wenig unterstützen und von unsinnigen Aufgaben entlasten. Hausaufgaben in der Ganztagsschule fallen mir da spontan ein. Hier hat man die Chance, Lernen anders zu organisieren. Leider wird diese Chance bei Offenen Ganztagsschulen durch das verzwickte juristische Konstrukt ausgelassen. Schade, denn hier läge eine faktisch gute Chance, Lernen neu zu denken und zu organisieren.

   Geld ist auch im Bildungsbereich nicht alles. Aber es ist wichtig und sollte mit Verstand und nicht nach dem Gießkannprinzip eingesetzt werden. Hier gehören die einzelnen Schulen gestärkt, die eigenverantwortlich mit ihrem – dann hoffentlich schülerunabhängigem – Budget umgehen und es verwalten. Nicht der genehmigende Sachbearbeiter entscheidet über die pädagogische Ausrichtung einer Schule, sondern die Schule selber. Eingenständig und verantwortungsvoll!

   Stimmen die Voraussetzungen, kann auch Inklusion in Schule beginnen und muss nicht so aussehen.

„Im Sinne einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!“

 „Im Sinne einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich:
Klettern Sie auf den Baum!