Vor einiger Zeit kam ich an eine Bushaltestelle, an der schon ein paar Menschen warteten. Die Bank war bis auf einen Platz unbesetzt, sodass ich mich hinsetzte, um die zehn Minuten, bis der Bus kam, nicht stehend warten zu müssen.
Neben mir saß eine ältere Dame mit einem Rollator. Wir sahen uns kurz an und lächelten uns dabei zu.
Kurze Zeit später sprach mich die Dame an: “Können Sie mir mit dem Rolllator helfen, wenn der Bus kommt. Ich habe nicht die Kraft, ihn in den Bus zu heben!“
„Sicher“, erwiederte ich und lächelte sie an, „das mache ich doch gerne!“
„Was meinen Sie, wie alt ich bin?“, fragte sie mich und sah mich auffordernd an.
Innerlich lächelte ich, denn ich hatte das Gefühl, als wolle sie unbedingt mit jemandem reden.Sie sah mich so nett an, dass ich sie nicht enttäuschen wollte. Nach kurzem Zögern und einem prüfenden Blick sagte ich: „Vierundachtzig.“
Sie sah mich an, lächelte und sagte triumphierend: „Da müssen Sie aber noch zehn Jahre zurechnen!“
„Vierundneunzig?“, fragte ich ungläubig, denn so alt erschien sie mir nicht.
Sie sah mich an, nickte und lächelte und schien wieder ihren Gedanken nachzuhängen.
„Ich habe viel erlebt!“ hörte ich sie sagen und mit diesen Worten riss sich mich aus meinen eigenen Gedanken. Sie gefiel mir, die alte Dame, deshalb lächelte ich sie an und nickte auffordernd.
„Ich habe einen Weltkrieg erlebt, war sechsunddreißig Jahre verheiratet und habe einen Sohn.“
Pause.
„Er holt mich heute Abend ab. Dann gehen wir in ein Restaurant! Mein Sohn hat mich eingeladen!“ sagte sie voller Stolz.
„Schön,“, sagte ich, „dann freuen Sie sich sicher auf den heutigen Abend!“
Ihr Mitteilungsbedürfnis war aber so groß, dass sie einfach weiter redete, als hätte sie meine Zustimmung gar nicht gehört.
„Mein Mann ist früher auch ab und zu mit mir in ein Restaurant gegangen,“, fuhr sie fort, „allerdings war das nur ganz selten. Ich habe mich ja um unseren Sohn kümmern und nebenbei noch arbeiten müssen. Wir haben ein Haus gebaut. Mein Mann ist oft fremdgegangen. Aber dafür hat ihn der liebe Gott später bestraft. Er hat einen Krebstumor hinter den Augen und man konnte ihm nicht helfen!“
Kurze Pause.
„Mein Sohn hat eine Frau, aber die mag ich nicht. Die hat mich schon geschlagen!“
Sie sah mich an. „Kommt der Bus bald? Sie helfen mir doch?“
Ich sah auf die Uhr und sagte: „Sicher helfe ich Ihnen. Der Bus kommt allerdings erst in acht Minuten. Wir müssen also noch ein bisschen warten.“
„Danke, dass Sie mir helfen!”, sagte sie.
“Fahren Sie denn auch bis zur Haltestelle Brehmstraße? Da muss ich nämlich aussteigen.“
„Nein!“ erwiderte ich. „Ich muss schon drei Stationen vorher aussteigen.“
„Sie hat mich geschlagen! Einfach so! Ich habe gar nichts gemacht! Meinem Sohn habe ich das aber nicht erzählt! Er soll wegen mir keinen Ärger bekommen!“ erzählte sie ohne Pause. „Ich mag sie nicht und gehe nur noch dort hin, wenn es nicht anders geht! Heute geht mein Sohn mit mir in ein Restaurant! Er holt mich nachher ab!“
Ich sah sie freundlich an. Sie schien es zu bemerken und redet weiter.
„Wissen Sie, ich fahre manchmal zu einem Seniorenkaffeekränzchen hier her. Man hat ja sonst wenig als so alter Mensch. Laufen kann ich noch ganz gut, aber der Rollator ist schwer. Den kann ich nicht mehr heben! Sie helfen …“
„Ja!“ sagte ich. „Ich helfe Ihnen gerne! Wir müssen aber noch fünf Minuten warten, bis der Bus kommt.“
„Gut, dann haben wir noch ein wenig Zeit!“
Wir schwiegen beide einen Augenblick und ich hielt nach dem Bus Ausschau. Nicht, weil er jeden Moment kommen musste, sondern weil ich nicht so recht wusste, womit ich die alte Dame unterhalten konnte.
Unvermittelt redete sie wieder.
„Mein Sohn holt mich heute Abend ab. Er hat mich zum Essen in ein Restaurant eingeladen. Es ist vielleicht das letzte Mal, denn ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe!“ Bei diesem Satz strich sie mit der Hand über ihrem Mantel. Einem älteren Mantel von guter Qualität, das sah man ihm an. Ihre Hand sah abgearbeitet aus und durch das altersbedingt fehlende Fett unter der Haut der Hand konnte man jeden Knochen, jede Ader und jede Sehne sehen.
Ich sah sie verwundert an, denn das passte, so fand ich, nicht zu ihr. Wenn man vierundneunzig Jahre alt ist, weiß man, dass die Lebenszeit sich dem Ende nähert, und sagt so etwas nicht. Oder, meine ich nur, dass man so etwas in dem Alter nicht sagt?
„Der Arzt hat gesagt, dass es schon in einer Woche vorbei sein kann. Ich habe jetzt schon die vierte Operation hinter mir und es wird nicht besser. Wenn ich Glück habe, hat der Arzt gesagt, dann dauert’s noch vier Wochen. Meinem Sohn habe ich noch gar nichts gesagt. Soll ich es ihm sagen?“ fragte sie mich.
Sie sah nicht aus, als hätte sie nur noch kurze Zeit hier auf Erden. Sie war alt, sah aber gut aus. Die Haut war rosig und faltig und sie strahlte Kraft aus.
Ich fühlte mich unwohl, denn was sollte ich ihr auf diese Frage sagen? Ich wusste es nicht und sah sie an.
Ich zuckte die Schultern leicht und sagte: “Ich glaube, ich würde es ihm nicht sagen, sondern heute mit ihm essen gehen und versuchen, einen schönen Abend zu haben! Er wird sich sicherlich über einen schönen Abend, den er jetzt noch mit Ihnen haben kann, freuen und Ihnen und dem lieben Gott nicht böse sein, wenn es wirklich der Letzte war.“
Schweigen! Nachdenken!
„Der Bus kommt!“, sagte ich und erhob mich.
Sie stand auf und ich hielt ihren Arm, um sie zu stützen. Mit der anderen Hand hob ich den Rollator an und wir gingen langsam zum Bus, der vor uns hielt. Wir stiegen ein, sie setzte sich auf den Rollator direkt gegenüber dem Eingang.
„Hier kann ich gleich aussteigen, wenn der Bus hält. Können Sie nicht mal fragen, ob hier jemand an der Brehmstraße aussteigt und mir beim Aussteigen helfen kann. Sie wissen doch, der Rollator ist so schwer!“
Sie sah mich an und ich nickte ihr zu. Schnell hatte ich jemanden gefunden, der Hilfe zusagte. Ich ging wieder zu der alten Dame zurück und sagte ihr, wer ihr beim Aussteigen helfen würde.
Sie sah mich an und sagte leise: „Danke! Sie haben recht, ich werde nichts sagen!“
Ich nickte und drückte den Halteknopf.
Als der Bus hielt, gab ich ihr die Hand, sah der alten Dame in die Augen und sagte: „Alles, alles Gute und einen schönen Abend mit Ihrem Sohn!“
Sie lächelte und wir beide wussten, dass sie keinen Sohn hatte und sie auch nicht zum Essen ins Restaurant gehen würde. Äußerlich fit, einsam und ganz nah vor dem Lebensende.
Ich hätte sie gerne noch ein wenig begleitet — aber nach der Adresse habe ich leider nicht gefragt.