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Es war einmal vor langer, langer Zeit.

Posted in Übers Lernen, Bildung, Förderung, Inklusion, Lernen, Nachdenkliches, Offener Unterricht, Schule, wasmirindensinnkommt, and Wertschätzung

Da gab es eine Schule, in die die Kinder gerne gingen.
Eigentlich war es keine besondere Schule, denn dort arbeiteten ganz normal Menschen wie du und ich. Trotzdem waren einige Dinge anders in dieser Schule.

Wenn die Kinder morgens in die Schule kamen, und manche Kinder kamen schon um halb acht, also eine Dreiviertelstunde vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn, gingen sie einfach in ihre Klasse. Die Schule war auf und die Klassen nicht verschlossen. Manchmal war auch der Lehrer schon so früh in der Klasse, aber das war selten. Erwachsene hatten ja immer noch etwas Dringendes zu erledigen.

Nein, nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht, sie waren nicht kopieren, um Arbeitsblätter zu verteilen. Die gab es zwar auch manchmal, aber das war eher selten.
Auch Schulbücher gab es nicht an dieser Schule.

Bevor die Kinder in die Klasse gingen, hatten sie ihre Jacke aufgehängt, ihre Schuhe aus- und die Hausschuhe angezogen. Alle trugen Hausschuhe in der Schule, auch die Lehrer, denn sie wollten ihren Arbeitsplatz sauber halten.

Manchmal waren andere Kinder schon da. Dann kam es vor, dass man sich erst einmal über Erlebtes vom vergangenen Tag berichtete. Manchmal hatten die Kinder aber auch keine Lust dazu, denn sie waren begierig darauf, ihre begonnen Arbeiten fortzusetzen.

Wenn die Lehrerin oder der Lehrer irgendwann vor acht Uhr in die Klasse kam, waren meist schon viele Schüler da. Sie saßen dann oft an ihren Tischen und arbeiteten leise.

Die Lehrer waren Helfer und es kam häufig vor, dass ein Schüler in einem Themengebiet besser bescheid wusste, als der Lehrer. Zum Beispiel, wenn es um Dinosaurier, deren unaussprechlichen Namen und deren Größe ging; ob sie Raubtiere waren oder Pflanzenfresser.

Der Lehrer sagte dann: „Ich weiß es nicht! Aber ich weiß, wo wir Infos dazu finden!“
Und schon begab man sich gemeinsam auf die Suche.

Manchmal half auch einer der älteren Schüler, weil ihn vielleicht gerade das gleiche Thema interessierte. Manchmal half er aber auch, weil ihm von älteren Schülern geholfen wurde, als er als kleines i-Dötzchen in diese Schule kam.

Die Kinder kamen gerne in die Schule, und wenn Ferien waren, hörte man oft vorher und hinterher: „Eigentlich würde ich lieber in die Schule gehen! Ferien sind langweilig!“

Auch die Eltern fühlten sich wohl an dieser Schule. Sie hatten Vertrauen in die Lehrer und, was noch viel wichtiger war, Vertrauen in die eigenen Kinder.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass an dieser Schule, in der die Kinder vom 1. bis zum 4. Schuljahr in eine Klasse gingen, es auch keine Zeugnisse gab.

Mit den Eltern wurde besprochen, wo das Kind Fortschritte gemacht hat und wo es Unterstützung benötigte. Gemeinsam versuchte man dann, den richtigen Weg zu finden. Das war nicht immer ganz einfach, denn manchmal war man auch unterschiedlicher Meinung. Da aber die Kinder gerne kamen und auch stolz Erarbeitetes zu Hause zeigen konnten und nach eigenen Interessen arbeiten konnte, fand man immer eine Lösung und setzte die Lösung gemeinsam um,

So ging es jahrelang. Es hatte sich herumgesprochen, dass es an dieser Schule keine Zeugnisse gäbe, dass die Kinder nach eigenen Interessen lernen konnten und dass immer Kinder von vier Jahrgängen eine Klasse bildeten.

Die Lehrer halfen den Kindern weiterhin bei ihren Projekten und Arbeiten und alle waren zufrieden.
Die Kinder, weil sie lernen durften, was sie wollten.
Die Eltern, weil ihre Kinder gerne in die Schule gingen und begierig waren aufs Lernen.
Die Lehrer, weil sie die Kinder in ihrem Tun unterstützen konnten und, weil sie keine Zeugnisse schreiben mussten. Das hätte einfach nicht zu diesem „Unterricht“ und dieser Schule gepasst.

Doch dann passierte, was passieren musste. Jemand vom Ministerium erfuhr von dieser Schule.

„Eine Schule, an der keine Zeugnisse geschrieben werden? Das kann nicht sein!“, dachten sich die Menschen im Ministerium. „Und die Kinder gehen auch noch gerne dort hin! Wenn das bekannt wird …!“, dachten sie und schlugen in Gedanken die Hände über dem Kopf zusammen.

Schnell wurde der Schulleiter ins Ministerium zitiert und es wurde ihm untersagt, keine Zeugnisse schreiben zu lassen.

Geknickt kam er wieder in die Schule und berichtete seinen Lehrern davon. Aber niemand wusste Rat.

Es nahte also der Tag des Zeugnisses und widerwillig begannen die Lehrer Zeugnisse zu schreiben. Sie grübelten, diskutierten, debattierten, welche Noten denn nun die richtige sei und immer wenn sie dachten, jetzt haben wir die richtige Lösung, kam ein anderer Gedanke und der machte die ganzen Überlegungen zunichte.
Diskussionen, die fast an ein Perpetuum mobile erinnerte, weil es immer weiter und weiter ging.
Häufig entschied man dann, eine „pädagogische“ Note zu geben.

Kurz vor der Zeugnisausgabe kam dann eine Delegation der Elternschaft in die Schule und sagte: „Wir haben von eurem Problem gehört! Auch wir denken, dass es für unsere Schule und unsere Kinder nicht gut ist, wenn wir jetzt Noten erhalten. Wie will man das bewerten, wenn jedes Kind lernen darf, was es will? Aus diesem Grund haben wir uns zusammengesetzt und teilen hiermit im Namen aller Eltern mit, dass wir die Zeugnisse nicht annehmen werden!“ Eine kurze Pause. „Wir können Ihnen natürlich nicht das Zeugnisschreiben erlassen, aber dann schreiben Sie die Zeugnisse halt für die Akte. Wenn ein Kind die Schule verlässt, so können Sie auf Wunsch die Zeugnisse aushändigen!“

Das verschlug den Lehrern die Sprache und in manchem Auge konnte man ein kleines, schüchternes Tränchen erkennen.

Wie heißt es so schön im Märchen? Und wenn sie nicht gestorben sind, so schreiben sie heute noch die Zeugnisse für die Akte, damit die Kinder das lernen können, was ihren Interessen entspricht.