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Ein Artikel in der aktuellen Tagespresse beschäftigt sich mit dem Sitzenbleiben in unserem Schulsystem. Sitzenbleiben erhöhe zwar die Kosten, allerdings sei das Wiederholen einer Klasse für den Schüler wichtig, denn sie lernen so, mit Niederlagen umzugehen. Außerdem hätte das positive Auswirkungen auf die Klasse, die den Wiederholer aufnimmt, weil der Lehrer seinen Unterricht anders vorbereiten müsse, um ihn an die veränderten Bedingungen anzupassen.
Diese drei Punkte: Geld, Niederlage, Lehrer, zeigen, woran über Schulsystem krankt.
Es gibt regelmäßig Statistiken darüber, wie viel Euro pro Schüler ein Bundesland im Jahr investiert. Logischerweise erhöhen sich die Kosten für einen Schüler, der länger im System verweilt. Andererseits kann man davon ausgehen, dass gute Bildung nicht billig ist, sondern ihren Preis hat. Ob die Ausgaben der Länder da ausreichen, wage ich generell zu bezweifeln. NRW als Schlusslicht in diesem Bundesländervergleich zeigt, wie das Schulsystem immer mehr leistungsunfähige Schüler generiert.
Bildung darf nicht nur kosten, sondern muss kosten, damit die Ausgaben sich im späteren Verlauf verzinsen können. Das tun sie, wenn gut ausgebildete Menschen das Rüstzeug erhalten haben, ihren Lebensweg eigenverantwortlich zu gehen und sich den ändernden Gegebenheiten anpassen können.
Niederlagen als Grundlage des Sitzenbleibens
Dazu gehört es aller Voraussicht nach auch, mit Niederlagen umgehenzugehen. Allerdings ist Sitzenbleiben nicht das eigentliche Misslingen, denn diese finden im Plural vorher statt. Jede vermasselte und benotete Arbeit, die am Schuljahresende zum Sitzenbleiben führt, ist eine Niederlage gewesen. Es sind so viele Niederlagen, dass sie nicht mehr verarbeitet werden können, in Frust und Hoffnungslosigkeit umschlagen und lähmen, überhaupt noch etwas zu tun: Ich verhaue die Arbeit ohnehin wieder! Dazu die Verletzungen durch Bemerkungen und gegebenenfalls sogar soziale Ausgrenzung.
Ein Beispiel aus den eigenen Lernerfahrungen, das aber nicht zum Sitzenbleiben führte:
Die Matheaufgabe war für mich ein Buch mit sieben Siegeln, denn ich konnte sie nicht lösen. Mein Lehrer merkte das und statt mit die Aufgabe noch einmal zu erklären, sagte er:“Als zusätzliche Hausaufgabe rechnest du die nächsten vier Päckchen auch noch!“Das war eine sehr sinnvolle Maßnahme, denn ich sollte mehr von den Aufgaben rechnen, die ich nicht verstanden hatte – ein echtes pädagogisches Highlight.
Damit komme ich zum Schulsystem.
Hier werden Sitzenbleiber erzeugt, weil unseres Schulsystems auf Grundlage einer Selektion anhand einer Defizitbewertung durchführt. Das kann man relativ einfach daran erkennen, dass bei Klassenarbeiten und allen anderen Bewertungen die Fehler angestrichen werden oder nicht geleistetes benotet wird.
Sind zu viele Fehler in der Arbeit, wandert die Note nach unten. In Deutschland ist das in Richtung sechs, der schlechtesten Note.
Untersuchungen zeigen, dass Kinder aus der Mittel- oder Oberschicht besser bewertet werden und der Lehrer den ein oder anderen Fehler auch einmal gerne übersieht. Das macht er nicht absichtlich, das möchte ich hier ausdrücklich klarstellen. Arbeiten der Kinder aus bildungsferneren Schichten werden dagegen genauer kontrolliert.
Defizitbewertung als Maß
Diese Art der Defizitbewertung setzt auch eine bestimmte Art von Unterricht voraus. Damit meine ich nicht mal den Frontalunterricht, der als Methode sicherlich auch seine Berechtigung hat, allerdings nicht als alleinige Unterrichtsform das Maß aller Dinge ist.
Der Lehrer richtet seinen Unterricht an der Leistung der mittleren Leistungsfähigkeit der Schüler aus. Wird diese Leistung erreicht, so ist sie befriedigend. Ist sie besser oder schlechter, wandert die Note in die entsprechende Richtung.
Um den Unterricht planen zu können, geht der Lehrer von einer homogenen Gruppe aus und wird diese Einheit standardmäßig in ein Zeitfenster von 45 Minuten packen. Letzteres ändert sich zusehends, da allgemein erkannt worden ist, dass ein Lern- oder Arbeitsprozess auch länger dauern kann.
Mit diesem von ihm geplanten Unterricht geht er nun in die Klasse und versucht ihn so umzusetzen, wie er skiziert wurde.
Sie merken schon, dass nun die Komponenten hinzukommen, die nicht planbar sind, und wenn es sich nur um eine Störung des Unterrichts durch eine externe Person handelt. Aber es spielen weitere Faktoren eine wichtige Rolle:
Die Beziehung untereinander, auch die zwischen Lehrer und Schüler.
- Sympathie und Antipathie,
- Tagesform,
- Laune,
- Frustrationen, die nichts mit Schule zu tun haben mussten,
- Interaktionen während des Unterrichts,
- und so weiter.
Man sieht, Unterrichtsplanung und Unterricht sind ein fragiles Gebilde, das sich schnell in der Praxis ändern kann.
Hinzu kommen die Ängste der schwächeren Schüler, die natürlich wissen, was eine schlechte Note für sie bedeutet und schon viele Misserfolge erlebt haben.
Grund für diese Niederlagen muss nicht mangelnde Intelligenz sein!
Auch hier ein Beispiel, das Lernen verdeutlichen soll:
Stellen Sie sich vor oder erinnern Sie sich an eine Situation, in der Ihnen gesagt worden ist: Das musst du bis zu diesem Datum lernen!
Das fällt unter Umständen sehr schwer, wenn man gerade eine andere Lernpräferenz hat. Man quält sich mit dem Lernstoff und irgendwie hat man den Eindruck, als bekäme man die Fakten nicht in den Kopf. Jede Möglichkeit auszuweichen und anderes zu tun, wird genutzt.Anders ist das, wenn man etwas lernen möchte – auch im Erwachsenenalter.
Man ist euphorisch, liest alles, was man zum Thema finden kann; sucht Gleichgesinnte und erzählt sämtlichen Freunden und Bekannten – ob sie es hören wollen oder nicht – was man gelernt hat.
Das ist die Art des Lernens, die am leichtesten fällt und am nachhaltigsten wirkt. Bisher Gelerntes wird einbezogen und eine dichte Vernetzung im Gehirn sind die Folge.
Wann aber hat man diese Erlebnisse in der Schule?
Selten, sehr selten, behaupte ich. Das liegt einerseits an der Unterrichtsorganisation, andererseits aber auch an der Methodik und Didaktik des Unterrichts, die zu wenig auf individuelles Lernen abgestimmt ist. Der Lehrer hat seinen Plan und diesen muss/will er bis zum Schuljahresende durchbekommen. Also ist wenig Raum für Individuelles.
Sitzenbleiben meines Erachtens absolut unnötig, passt man Schule an die Erfordernisse der Zeit an.
Das ist einmal das individuelle Lernen, andererseits die Digitalisierung. Die Problematisierung des Unterrichts und die Eigenverantwortung der Schüler bei der Problemlösung, individualisiert den Lernweg und fördert die Teamfähigkeit. Dies kann zum Beispiel über Projektarbeit geschehen, die nicht durch die Vorgaben der in den Unterricht gegebenen Materialien vorbestimmt wird.
Dies entspräche auch den Grundlagen von Inklusion, will man sie ernsthaft im Unterricht umsetzen
Methodenwechsel sorgen für Abwechselung und die Auflösung der 45-Minuten-Stunde erschließt neue Möglichkeiten des Lernens. Dazu ein Lehrer, der begleitend als Moderator und Helfer tätig ist und die Stärken eines jeden Schülers im Blick hat.
Liegt der Schwerpunkt auf den Stärken des Schülers, kann dieser mit gesundem Selbstbewusstsein an seinen Schwächen arbeiten.
Dazu braucht man Lehrer, die sich vom alten Rollenbild lösen können, gut ausgebildet sind und ein positives Menschenbild haben.
Leider werden im Moment immer mehr Seiteneinsteiger in den Lehrerberuf gelassen, die bar jeglicher Didaktik und Methodik Kenntnisse unterrichten. Kein wirklicher Qualitätsgewinn für unsere Schulen und den Schülern, die dort unterricht werden.