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EU-Kongress: Auf dem Weg zur schulischen Inklusion – Eine Kultur des Behaltens entwickeln und leben!

Posted in Lernen, Politik, and Schule

Grußwort

der Ministerin für Schule und Weiterbildung
des Landes Nordrhein-Westfalen,
Sylvia Löhrmann

EU-Kongress: Auf dem Weg zur schulischen Inklusion – Eine Kultur des Behaltens entwickeln und leben!

Mittwoch, 22. September 2010

Es gilt das gesprochene Wort! –

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

für die Landesregierung steht die Bildung ganz oben auf der Agenda. Im Schulressort haben wir zunächst fünf Schwerpunkte gesetzt: Die Gemeinschaftsschule, Probleme bei G8/G9, den Ausbau des Ganztags, die Verbesserung der Unterrichtsqualität und last but not least die Inklusion.
Und darum bin ich froh, dass ich auf der heutigen wichtigen Fachtagung des Landschaftsverbands Rheinland „Auf dem Weg zur schulischen Inklusion“ die Möglichkeit habe, dazu zu Ihnen zu sprechen.

Allen Beteiligten ist mittlerweile klar:
Über das Ziel des Weges, nämlich das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, sind wir uns einig. Aber unterwegs erwarten uns ziemlich sicher noch der eine oder andere Umweg, unerwartete Hindernisse oder hitzige Diskussionen über die beste Reiseroute.
Das ist immer so bei großen, richtungweisenden und anspruchsvollen Unternehmungen!
In Afrika sagt man:

„Wenn du schnell gehen willst, dann geh alleine. Wenn du weit gehen willst, dann musst du mit anderen zusammen gehen.“
Ich möchte Sie also ermutigen, diesen weiten Weg gemeinsam zu gehen – dabei wünsche ich Ihnen für unterwegs Zielstrebigkeit und vor allem Ausdauer!

Meine Damen und Herren,
seit 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung auch für Deutschland verbindlich.

Bei uns hat nun ein Paradigmenwechsel begonnen:
Alle Bundesländer stehen vor der Aufgabe, ihre Schulgesetze entsprechend der neuen gesetzlichen Grundlage weiter zu entwickeln und zu konkretisieren.

Immer mehr Menschen in Politik und Gesellschaft – ob Eltern, Lehrkräfte, Schülerinnen, Schüler oder auch Schulträger und Schulverwaltung – verstehen, dass zwischen den Wortpaaren „Integration und Inklusion“ oder auch „Fürsorge und Empowerment“ mehr als pädagogisch feinsinnige Unterschiede liegen.

Immer mehr Menschen verstehen: Wir müssen eine grundsätzlich andere Schulkultur entwickeln, wir brauchen eine Kultur des Behaltens. Eine Kultur des Behaltens aller Kinder und Jugendlichen!

Meine Damen und Herren,
zu dieser Kultur gehört auch, dass weniger Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholen müssen, weil wir nämlich alles tun, um sie „zu behalten“, indem wir sie individuell fördern!

Zu dieser Kultur des Behaltens gehört auch, dass weniger Schülerinnen und Schüler ihre Schule verlassen müssen, wenn ihre Leistungen nicht gut genug sind, dass sie „abgeschult“ werden, ein furchtbares Wort! Wir reden dabei immer auch von der Leistung der Schule, meine Damen und Herren!

Wir müssen alles tun, damit unsere Schulen ihre Schülerinnen und Schüler nicht an andere Schulformen abgeben, wenn es schwierig wird, sondern sie behalten.

Es geht um die Verbesserung der Bildungs- und damit Lebenschancen aller Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft oder anderen Merkmalen, wie zum Beispiel einem bestimmten Förderbedarf. Es geht um bessere Leistungen unseres Schulsystems insgesamt, in der Spitze genauso wie in der Breite.

Meine Damen und Herren,
in unserem Koalitionsvertrag haben wir uns zur Inklusion eindeutig positioniert:

„Die UN-Konvention räumt Kindern mit Behinderungen das Recht auf inklusive Bildung ein. Diesem Recht wollen wir landesgesetzlich Rechnung tragen. In einem ersten Schritt wollen wir einen Inklusionsplan entwickeln, der den Eltern das Wahlrecht über den Förderort ihres Kindes ermöglicht und weitere Schritte und Maßnahmen beschreibt, die in den nächsten Jahren notwendig sind, um ein inklusives Bildungssystem zu schaffen …“.
Ein solcher Prozess kann nicht allein durch „Ansagen von oben“ verankert werden. Wir könnten das zwar rein theoretisch versuchen, es würde aber nicht gut funktionieren!

Es geht auch nicht allein um „ethische Grundsatzfragen“ nach einer gerechten,    diskriminierungsfreien    und    selbstbestimmten gesellschaftlichen Teilhabe für Menschen mit Behinderung, so wichtig ethische Grundsatzfragen sind.

Wir erleben zurzeit einen spürbaren wirtschaftlichen und demografischen Wandel. Und deshalb stellen sich durchaus praxisnahe Fragen:

  • wer ermöglicht
  • in welcher Verantwortung
  • und mit welchen finanziellen Mitteln
  • inklusive Bildungsangebote?

Der Landesverband Rheinland hat dazu einen zukunftsträchtigen Impuls gesetzt: Er ermöglicht flexiblere Unterstützungsformen für Schülerinnen und Schüler in wohnortnahen Schulen, Stichwort „Inklusionspauschale “.

Durch die Inklusionspauschale    können Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, die nicht an Förderschulen des Landschaftsverbandes unterrichtet werden, an einer Schule vor Ort die erforderlichen Unterstützungsleistungen bekommen.

Ein solches Beispiel zeigt: Es lohnt sich, gemeinsam an Umsetzungsideen, konkreten Aufgaben und flexiblen Lösungen zu arbeiten.
Wir alle, die verschiedenen Akteure, ob Land oder Kommunen, stehen in der Pflicht! Wir stehen in der Pflicht, überzeugende Maßnahmen umzusetzen für eine     diskriminierungsfreie, chancengleiche und gerechte Gesellschaft.

Für mich heißt das: Ich werde mit den verschiedenen Beteiligten klare Handlungsstrukturen besprechen, planen und umsetzen. Anfang dieses Jahres gab es im MSW bereits zwei Gesprächsrunden zur Inklusion, und ich möchte ihnen einen dritten Arbeitsprozess folgen lassen. Dabei binde ich wichtige Akteure und Verbände ein. Dass es diese Runde, gibt ist im

Übrigen der Grund, warum das Thema Inklusion auf der Bildungskonferenz nicht angesprochen wird. Wir wissen noch nicht, ob wir dort zu einem Konsens kommen und wollen den erfolgversprechenden Prozess bei der Inklusion nicht behindern.

Meine Damen und Herren,
unser Ziel erreichen wir nur durch miteinander abgestimmte Planungen, im Großen wie im Kleinen, auf Landesebene bis hin zu den einzelnen Kommunen.

Die kommunale Finanzierung ist in aller Munde. Wie Sie wissen, arbeitet die Landesregierung auch daran, unsere Kommunen wieder handlungsfähig zu machen.

Aber unabhängig von der notwendigen Handlungsfähigkeit unserer Kommunen müssen wir natürlich grundsätzlich sehr genau überlegen, wofür wir Geld ausgeben. Wir können uns keine Reibungsverluste wegen unzureichender Planung leisten.

Und deshalb ist es besonders wichtig, dass die Kommunen gut zusammen arbeiten, damit sie für unsere Kinder und Jugendlichen qualitativ hochwertige Förderung gewährleisten können.

Wenn wir ein entsprechendes inklusives Unterrichtsangebot in jedem Bildungsgang und in jeder Schulstufe vor Ort stellen könnten: Dann wäre das ein guter Anfang.

Denn alle Beteiligten – Eltern, Lehrkräfte und Schulträger – brauchen Verlässlichkeit, damit sie den Gedanken der Inklusion konsequent weiterentwickeln und Schritt für Schritt in die Wirklichkeit umsetzen können.

Wir    könnten    zunächst für eine    Übergangszeit „Schwerpunktschulen“ in bestimmten regionalen Einzugsbereichen einrichten. Natürlich muss dies vor Ort mit den Beteiligten geklärt werden und dort auch als Auftrag wahrgenommen werden.

Meine Damen und Herren,
in diesem großen Transformationsprozess zur Inklusion geht es natürlich nicht nur um strukturelle und organisatorische Fragen.

Es geht um viel mehr! Das müssen wir immer wieder betonen und bei den Menschen nachdrücklich darum werben:

Es geht darum, dass wir Menschen mit Behinderungen in unsere Mitte nehmen. Dass sie einfach da sind im sogenannten normalen Leben, dass sie uns bereichern mit ihrem vermeintlichen oder tatsächlichen Anderssein. Dass wir von ihnen lernen können und sie von uns.

Auch im sogenannten „normalen“ Schulleben. Obwohl sich bestimmt viele Lehrerinnen und Lehrer täglich fragen: Gibt es so etwas wie ein „normales“ Schulleben überhaupt? War das nicht eigentlich immer eine Illusion?

Meine Damen und Herren,
inklusive Bildung – Gemeinsames Lernen ist nicht „nur“ gemeinsames Beisammensein in einem Klassenraum. Wir wollen ein optimales Bildungsangebot für alle umsetzen, das sich an den Bedürfnissen und dem Fähigkeiten der jeweiligen Lerngruppe ausrichtet.

Damit uns dies gelingt, müssen sich unsere Lehrerinnen und Lehrer öffnen für neue, ihnen bislang vielleicht unbekannte pädagogische Sichtweisen und Unterrichtskonzepte: Die Lehrkräfte aus den allgemeinen Schulen für die Konzepte aus den Förderschulen genauso wie die Lehrkräfte aus den Förderschulen für die Konzepte aus den allgemeinen Schulen.
Dabei wird sich ein Kompetenztransfer entwickeln, eine win-win- Situation für alle Beteiligten. Und wie immer werden wir dabei feststellen    können:    Das    Ergebnis    dieses    V oneinander -Lernens    ist weitaus mehr als die simple Summe der einzelnen Teile!

Meine Damen und Herren,
wir wissen schon lange, dass die Vorstellung der homogenen Lerngruppe genau das ist: Eine Illusion! Deshalb wollen wir Schülerinnen und Schüler individuell fördern, und deshalb wollen wir Inklusion.

Es ist hohe Zeit, den Gedanken der Vielfalt wirklich in unseren Schulen zu verankern. Vielfalt ist Chance, und nicht etwa Bedrohung, meine Damen und Herren, sie ist eine echte, große Chance!

Natürlich benötigen unsere Lehrerinnen und Lehrer bei dieser neuen Art von Zusammenarbeit Unterstützung und Fortbildung, damit sie für diese Herausforderung weiter qualifiziert werden.

Wir brauchen eine Fortbildungsoffensive in der Lehrerfortbildung:
Alle Lehrkräfte sollen Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen unterstützen können. Aber natürlich braucht es weiterhin spezialisierte Förderlehrkräfte, die mit ihren besonderen Kenntnissen die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen begleiten und andere Lehrkräfte hierin anleiten.

Die notwendigen Mittel für die Bildungsinvestitionen wie diese und auch den Ganztag können wir u.a. deshalb zur Verfügung stellen, weil wir Demografiegewinne im System Schule lassen. Das Kabinett hat gestern für den Nachtragshaushalt 188 Stellen für Integratives Lernen beschlossen, um in diesem Bereich eine Lehrerlücke zu schließen. Das ist eine gute Nachricht für die Schulen!

Meine Damen und Herren,
ich weiß, dass Menschen auf anstehende Veränderungen sehr unterschiedlich reagieren: Die einen fühlen sich durch Veränderungen beflügelt und verspüren geradezu Ungeduld, dass es endlich losgehen möge. Das ist gut so, denn wir brauchen Zuversicht, Mut und Energie, um die große Aufgabe der Inklusion erfolgreich anzugehen!

Bei anderen Menschen jedoch rufen diese Veränderungen eher Bedenken und Ängste hervor. Und das ist auch gut so, denn wir brauchen genauso kritisches Reflektieren, Überprüfen und Abwägen, um die große Aufgabe der Inklusion erfolgreich anzugehen!

Wir werden einen breit angelegten Dialog zur UN- Behindertenrechtskonvention führen, und so werden wir konkrete Schritte zur Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens und damit auch eines inklusiven Schulsystems tun. Wir werden dabei bereits beschrittene Pfade aufnehmen und weiterentwickeln, es wird aber auch neue Wege geben.

Meine Damen und Herren,
im vergangenen Jahr ist ein Versuch, bei diesem wichtigen Thema im Landtag zu einem fraktionsübergreifenden Antrag zu kommen, leider gescheitert. Obwohl wir uns schon sehr weit aneinander angenähert hatten!
Die Fraktionen von Bündnis 90/ Die Grünen und SPD haben noch vor Bildung der neuen Landesregierung Anfang Juli einen neuen Antrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Schulsystem in den Landtag eingebracht. Im Schulausschuss vereinbarten die Fraktionen nun Anfang September, erneut zu prüfen, ob sie zu einem gemeinsamen Antrag kommen.

Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Herr Laumann, hat in diesem Themenfeld Kooperation angeboten. Darüber freue ich mich und bin deshalb zuversichtlich, dass ein neuer Versuch diesmal erfolgreicher sein wird.

Ich sehe viel Übereinstimmung, denn wir alle wollen

  • den Ausbau des gemeinsamen Lernens vorantreiben und
  • die allgemeine Schule in den Mittelpunkt rücken. Dabei spielt die Sonderpädagogik eine wichtige Unterstützerrolle!
  • Wir alle wollen, dass der Elternwille bei der Wahl des schulischen Förderortes berücksichtigt wird.

Meine Damen und Herren,
es ist gut, dass Sie mit Ihrem heutigen Fachkongress den Diskussionsfaden wieder aufnehmen und einen Beitrag zu Debatte leisten. Ein Blick in andere Länder zeigt uns ja schon seit längerem,dass ein erfolgreiches „inklusives Schulsystem“ durchaus möglich ist.

Ich wünsche Ihnen intensive Gespräche und gute Ansätze für Ihre persönliche Routenfindung auf dem Weg zu einer inklusiven Schule. Und dabei ermutigt Sie vielleicht ein schöner Satz des Freiherrn Adolph von Knigge. Der sagt nämlich nicht nur tiefsinnige Dinge zu den Vorteilen eines höflichen und wertschätzenden Miteinanders, sondern offeriert auch folgenden tröstlichen Gedanken:

„Zum Reisen gehört Geduld, Mut, Humor und dass man sich durch kleine widrige Zufälle nicht niederschlagen lasse.“

Ich wünsche Ihnen heute einen Reisetag ohne Widrigkeiten und einen inspirierenden Austausch!

Quelle: http://www.schulministerium.nrw.de vom  04.10.2010