Gut ein Jahr zu früh muss ich nun wegen Dienstunfähigkeit aus dem aktiven Schuldienst ausscheiden. Der Auslöser steht im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Schulleiter und wird medizinisch als Depression diagnostiziert und ist nicht mit Burn-out zu verwechseln.
Da ich ohne die übliche Verabschiedung aus dem Dienst ausgeschieden bin und die Abschiedsrede, die ich dort zum Besten gegeben hätte, nicht halten kann, kann sie hier auf meiner Internetseite nachgelesen werden.
Sie zeigt in knapper Form meinen ungewöhnlichen Lebensweg.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Freunde!
Ich weiß noch genau, wie ich 1978 in Köln meine erste Stelle in der Südstadt angetreten habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon eine Berufsausbildung beendet – viele von Ihnen wissen, dass ich mich staatlich geprüfter Bauer nennen darf. Böse Zungen behaupten, man merkt das auch bisweilen.
Trotzdem war ich aufgeregt, neugierig auf das, was auf mich zukommen würde. Kurz bevor ich meine erste Stelle antrat, hatte man sogenannte Langformklassen gebildet, die ausschließlich Schüler gleicher Nationalität besuchten. Man hoffte, so die notwendigen Sprachkenntnisse diesen Schülern möglichst schnell vermitteln zu können. Eine homogene Gruppe – die Ausgangsvoraussetzungen wurden als gut eingestuft, so versicherte man damals. Heute weiß man, dass eine solche Zusammenfassung von Schülern zu keinem rascheren Erlernen der Sprache führt.
Keine Sorge, ich erzähle mein Lehrerleben nicht in Echtzeit. So viel Zeit habe ich nicht mehr und Sie wissen sicherlich Besseres mit Ihrer anzufangen. Trotzdem werde ich Sie noch um einen Augenblick Geduld bitten und Ihre Aufmerksamkeit einfordern.
Es war selbstverständlich, dass ich diese Klasse als Klassenlehrer bekam. Auch in der Schule gilt, wer zuletzt kommt, muss machen, was die anderen nicht wollten. Ganz besonders gilt das, wenn es die erste Stelle nach dem Referendariat ist. Lange Rede kurzer Sinn, ich habe das 4. Schuljahr in seiner Gesamtheit und ohne Ausnahme sitzen lassen. Dies geschah in Absprache mit Eltern und dem Schulrat, denn die Startvoraussetzungen sollten für die weiterführende Schule so gut wie möglich sein.
In dieser Zeit gehörte ich zu den „Auserkorenen“, die bei der Entwicklung und Herstellung von Unterrichtsmaterialien für alle Kölner Schulen teilnehmen durfte. Es gab noch nichts und so ist mit Herstellung auch die Bindung dieser Werke gemeint.
Kurz nach meinem Dienstantritt verpflichtete man in Köln alle Lehrer, sich einen Film über Célestin Freinet anzusehen. Nach dem Film teilte man den Lehrern mit, dass sie ab sofort so unterrichten sollten. Wir saßen danach fast jeden Nachmittag in der Schule und haben gesucht, geschnitten, geklebt, gestanzt, katalogisiert und zum Schluss das Erstellte mit Folie überzogen. Die Schüler konnten die Karten in beliebiger Reihenfolge bearbeiten. Das nannte man „Freiarbeit“, war aber so weit davon entfernt wie die Erde vom Mond.
Trotzdem war das ein guter und richtiger Zwischenschritt auf dem Weg zum individuellen Lernen.
Ich habe immer gerne so gearbeitet, die Schüler individuell nach ihren Fähigkeiten unterstützt.
Das fiel meinem Schulrat auf und er fragte mich, ob ich nicht an einer Montessorischule arbeiten wolle.
„Sie passen dort sehr gut hin!“
So landete ich an der Montessorischule, hatte dort eine altersgemischte Klasse 1-4, ein Kollegium, das bei aller Unterschiedlichkeit und Diskussion im Grunde immer an einem Strang zog und einen Schulleiter, der durch seine charismatische Ausstrahlung die Menschen in seinen Bann zog.
Eine Zeit, in der ich viel gelernt habe und zuweilen auch den Schüler beim Erschließen ihrer Welt helfen konnte. Was an dieser Schule damals praktiziert wurde, war entfernt von Integration und schon recht nah an Inklusion. Das Umfeld stimmt für Schüler, Eltern und Lehrer.
Jeder fühlte sich wertgeschätzt und angenommen. Gegenseitiges Vertrauen ließen auch schwierige Entscheidungen zu und durch den Verbleib im Klassenverband bei Wiederholungen, fand keine Stigmatisierung statt.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ein Schüler in die höhere Klasse versetzt worden ist und zum Beispiel in Mathematik am Unterricht der gerade verlassenen Klassenstufe weiterhin teilnahm.
Die Schüler konnten in der Freiarbeit eigene Themen wählen und bearbeiten. Der Lehrer war Moderator und Helfer.
Ein Wechsel zwischen Freiarbeit und lehrerzentriertem Unterricht, zwischen Selbstständigkeit und Übungsstunden, wie sie jeder kennt, bildeten ein Paket, das sowohl Eigenständigkeit als auch die nötigen und wichtigen Übungszeiten einschloss.
Was uns diese Art der Arbeit damals enorm erleichterte, war die Tatsache, dass wir keine Zeugnisse geschrieben haben.
Statt der Zeugnisse haben wir eine intensive Elternarbeit und -beratung betrieben. Paradiesische Voraussetzungen. Zufällig hat davon die übergeordnete Behörde Wind bekommen und uns untersagt, so fortzufahren.
Wir wurden verpflichtet Zeugnisse zu schreiben, so wie es an allen Schulen üblich war und ist.
Die Eltern unserer Schüler haben in diesem Zusammenhang beschlossen, die Zeugnisse nicht anzunehmen. Zeugnisschreiben und Notengebung würde individuelles Lernen unmöglich machen. So schrieben wir die Zeugnisse, die ungelesen im Aktenschrank verschwanden, und berieten die Eltern weiterhin intensiv über die Entwicklung ihres Kindes.
Einige Arbeiten aus dieser Zeit können Sie heute noch im Internet bewundern. Zum Beispiel die Seiten der Mittelalterstadt Köln, für die wir von der damaligen Ministerin ausgezeichnet wurden.
Oder „Kinder helfen Kindern lernen“. Ein Projekt, bei dem die Internetpräsentation der Mittelalterstadt-Köln auf CD verkauft wurde, um so einem Kind in Vietnam den Schulbesuch zu ermöglichen. Auch dieses Projekt ist deutschlandweit ausgezeichnet worden.
Es gab noch viele Projekte. Aber, keine Sorge, ich werde hier nicht alle aufzählen.
Auch ich wurde in einem landesweiten Wettbewerb ausgezeichnet, mit Preisgeld geehrt und auf der Bühne von der Ministerin dafür gelobt.
Legendär waren unsere Zeltlager mit Kindern und Eltern. Der Spaß kam an keiner Stelle zu kurz!
Ich kann mich an kein Jahr meiner Dienstzeit erinnern, an der ich nicht in der Lehrerfortbildung tätig war. Während dieser Lehrerfortbildungen traf ich immer wieder auf Kollegen, die als Schulleiter tätig waren, und wurde von einigen gedrängt, doch eine Schule zu leiten, Verantwortung zu übernehmen.
Lange habe ich mich geziert. Ich weiß nicht, ob die Midlife-Crisis für meine Entscheidung mitverantwortlich war, ich wollte es halt noch einmal wissen. Von der Schulaufsicht wurde meine Bewerbung begrüßt. Nach dem Durchlaufen der üblichen Formalien war ich Rektor eine Brennpunktgrundschule.
Die ersten 18 Monate zum Gehalt eines Lehrers, da die Stelle durch die Altersteilzeit meiner Vorgängerin noch nicht freigegeben war.
Diese Zeit will ich hier gar nicht weiter ausbreiten, da sie mir die positiven und guten Erinnerungen an meine Lehrerzeit nimmt.
Komplett zerkratzte Autos, präparierte und zerstochene Autoreifen, bis hin zur Morddrohung, eine Einkaufstüte mit Handgranaten auf dem Schulhof, gehören nicht standardmäßig zum Stoff einer Abschiedsrede. Diese Ereignisse über Jahre hinweg und der fehlende Rückhalt der dienstvorgesetzen Behörde ließen in mir die Entscheidung reifen, die Schule zu wechseln. Jahrelange Selbstverwaltung der neuen Schule haben Ansprüche bei vielen an Schule beteiligten Personen verfestigt, die rechtlich nicht haltbar waren und die ich korrigieren musste. Internetbashing und massives Mobbing unter Einsatz der Eltern waren die Folge.
Wenn ich zurückschaue, so muss ich sagen, dass ich den Spagat zwischen dem augenscheinlichen Auftrag im Sinne der Kinder, den Ansprüchen von Lehrern und Eltern nicht herstellen konnte.
Die Bedürfnisse der Kinder standen für mich immer an erster Stelle. Dafür habe ich mich immer eingesetzt und bin manchen nicht alltäglichen Weg gegangen und auch des Öfteren angeeckt.
Gescheitert bin ich letztendlich daran, dass ich die Wirklichkeit nicht erkannt habe und die Schule im Sinne der Kinder pädagogisch voranbringen wollte. Allerdings, ohne die entsprechenden Befugnisse.
Hätte ich früher erkannt, dass es ohne Machtbefugnisse keine Verantwortung gibt, wäre ich sicherlich nicht in die Situation gekommen, in der ich mich heute befinde, hätte nicht wie Don Quichotte gegen Windmühlen gekämpft und Dinge aushalten müssen, unter denen, durch meine hohe Belastung, an erster Stelle meine Familie zu leiden hatte.
„Der „Schulleiter“ hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen.
Prof. Dr. Müller-Limmroth
02.06.1988 in der „Züricher Weltwoche““
Schaue ich auf meinen Lebensweg zurück und damit komme ich mit meiner Rede zum Ende, so kann ich sehr zufrieden sein. Aufgestiegen aus einer bildungsfernen Schicht, wie es heute wenig aussagekräftig beschrieben wird, mit 8 Jahren Volksschule, von denen zwei Schuljahre Kurzschuljahre waren, mit zwei Berufsausbildungen, Lehrer, Rektor, von der Ministerin ausgezeichnet, Herausgeber, Autor und was mir am wichtigsten ist, mit einer seit dreißig Jahren funktionierenden Beziehung und zwei wunderbaren Töchtern.
Sehe ich meinen Lebensweg so in der Rückschau, so weiß ich, dass ich ein Glückskind bin, dem das Glück im richtigen Augenblick immer zugelächelt hat. Ich musste nur noch zugreifen.
Gut ein Jahr vor Erreichen der Pensionsgrenze gehe ich gezwungenermaßen in Pension. Voll vertrauend auf meine Fähigkeiten und dass jedes Ende ein neuer Anfang ist. Das Glück wird mir abermals zulächeln und ich werde die angebotenen Chancen ergreifen.
Vielen Dank!