Das ist unbestritten, deshalb unterschreibe ich den Titel sofort, wie ihn die Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat.
Noten als Grundlage der Leistungsbewertung, eine ständige Diskussion. Share on X
Anders als der Chef des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, sehe ich allerdings den Einsatz der Note nicht als wichtigstes Instrument der Leistungsbewertung.
Das Zustandekommen von Noten ist keine Zauberei. Sind sie objektiv? Share on X
Dazu muss man sich vor Augen führen, wie Noten in der Regel gebildet werden. Zum einen sind da die Klassenarbeiten, in denen reproduktives Wissen abgefragt und dieses Wissen mit einer Note quittiert wird. Dann fließen Noten für die Mitarbeit im Unterricht ein, für Hausaufgaben und so weiter ein. Dies differiert je nach Fach ein wenig. Der Vorteil ist die leichte Handhabbarkeit der Noten. Aus der Summe der Noten eines Faches wird der Durchschnitt gebildet, vielleicht noch etwas liften oder absenken, je nach pädagogischem Ansatz, dann ist die Note fertig.
Noten als Vergleichsgrundlage von Schülerleistung? Share on X
Sie benötigt keine weiteren Erklärungen mehr und ist mit den Noten anderer Schüler vergleichbar – sollte man meinen.
Dem ist nicht so, denn es fließen noch viele andere Dinge in die Notengebung mit ein. Als Beispiel sei hier nur die Sympathie oder Antipathie Lehrer Schüler genannt. Ja, so etwas gibt es auch zwischen Lehrern und Schülern. (siehe Links am Ende des Artikels)
Dazu ein Beispiel, das ich in einem Restaurant mitgehört habe:
Zwei Lehrer sitzen im Lokal am Nachbartisch.
»Musst du noch viel machen vor den Sommerferien?«
»Nein! Ich muss nur die Note von Paul noch korrigieren. Er steht eigentlich auf zwei, hatte allerdings zehn unentschuldigte Fehlstunden. Dafür werde ich die Note auf 3+ korrigieren.«
Eine gute Leistung bleibt eine gute Leistung, auch bei zehn unentschuldigten Fehlstunden. Sie müsste im Grunde genommen Richtung eins tendierten bei zehn versäumten Stunden. Immerhin wurde diese Leistung in wesentlich kürzerer Zeit erbracht, was für eine schnelle Auffassungsgabe spricht.
Das Gespräch, das leider nicht zu überhören war, lieferte ein Beispiel über die »Allmacht« von Lehrern und die Schwächen der Notengebung.
Die Note dient der Selektion. Share on X
Darüber hinaus sehe ich ein anderes grundsätzliches Problem der Notengebung. Sie dient einzig und allein der Selektion und der Beibehaltung homogener Klassen.
Der Selektionsgedanke bei der Notenvergabe ist sicherlich auf die Entwicklung der Gesellschaft seit der industriellen Revolution und der Einführung unseres Schulsystems unter Bismarck zurückzuführen.
Auch in unserem Land gibt es verschiedene Bevölkerungsschichten, die gerne unter sich bleiben und ein Mischen vermeiden. Das war/ist mit der Note recht gut zu bewerkstelligen. Wie schwer es Arbeiterkinder am Gymnasium haben oder im Studium, wird durch einige Studien belegt.
Wunschtraum homogene Klasse. Ist er erfüllbar? Share on X
Je homogener das Leistungsvermögen der Schüler einer Klasse ist, umso einfacher ist die Vorbereitung und der Unterricht. Individualitäten müssen kaum berücksichtigt werden und die Leistungsanforderung an die Schüler liegt auf einem recht ähnlichen Niveau. Das Erreichen des nächsten Unterrichtsziels ist planbar und in der Regel auch wie vorbestimmt erreichbar.
Das Lehrerleben wird so sehr erleichtert, denn die Differenzierung im Unterricht fällt recht gering aus.
Heterogene Klassen und Lehrerängste. Share on X
Anders sieht die Sache aus, wenn man keine homogene Klasse vor sich hat. Hier muss stark differenziert werden. Ein Vergleich mittels Noten ist nicht mehr möglich, da sich die Schüler auf unterschiedlichen Leistungsebenen befinden. Im Grund muss eine komplette Individualisierung des Unterrichts stattfinden. Das ist schwierig, denn viele Lehrer haben das in ihrer Ausbildung nicht gelernt und ist gleichzeitig mit Versagensängsten behaftet. Lehrer haben in der Regel eine sehr hohe Leistungsanforderung an die eigene Person. Die Angst, dem Schüler nicht mehr gerecht zu werden, verschließt den Weg zu einer anderen Unterrichtsform und zu einer anderen Beurteilung ohne Noten.
Individuelle Förderung ist allerdings seit einigen Jahren fester Bestandteil der Richtlinien und Lehrpläne, zumindest für die Grundschulen.
Hier sind Versuche des individualisierten Unterrichts gescheitert. Share on X
Die flexible Schuleingangsphase, die in NRW zwingend vorgeschrieben war und den jahrgangsübergreifenden Unterricht als Regelunterrichtsform vorschrieb, wurde nach vielen Protesten durch Lehrer und Eltern wieder zurückgenommen. Nun ist wieder Klassenunterricht die Regel und die Vorteile der altersgemischten Klassen werden nicht genutzt.
Einerseits, weil Lehrer sich überfordert fühlten und die Voraussetzung für diese Unterrichtsform nicht geschaffen waren. Andererseits, weil Eltern um die Gymnasialfähigkeit ihrer Kinder fürchteten und Leistungseinbrüche vermuteten, die den Schulweg erschweren könnten.
Eltern haben viel Macht in Politik und Schule. Share on X
Die Macht der Eltern in der Schulpolitik ist groß. Jeder hat Schule durchlaufen und kennt sich aus, ist ein Ansatz, der durch die Politik noch verstärkt wird.
Allerdings haben Eltern nur die eigene Erfahrung – Noten haben mir auch nicht geschadet und die Schule habe ich geschafft – als Grundlage ihrer Entscheidung und, was viel wichtiger ist, das Wohl ihres Kindes im Blick. Ansinnen, die verständlich sind und bei uns und unseren Kindern ähnlich waren. Trotzdem hindern sie in manchen Fällen die Schulentwicklung.
Ohne Noten muss sich auch der Unterricht ändern. Share on X
Will man von der Bewertung durch Noten zu einer anderen Leistungsbewertungsform kommen, so ist das ohne Änderung des Unterrichts nicht möglich. Das ist keine Abkehr vom Frontalunterricht, denn dieser ist ebenso sinnvoll, wie andere Unterrichtsformen. Wichtig ist eine Hinwendung zum individualisierten Lernen, zu offenen Lernumgebungen. Der Blick muss weg von der Note, der Selektion die dahinter steht und hin zum Blick auf die Stärken eines Kindes. Das erhält die Lernfreude ein Leben lang und fördert zutage, was sonst unter dem Einheitsbrei des Gleichschrittlernens verborgen bleibt.
Individualisiertes Lernen führt nicht zu geringer Leistung, erhält aber den Spaß beim Lernen. Share on X
Die Leistungen der Schüler, die sich so die Welt erschließen, sind nicht geringer als die derer, die in einer homogenen Klasse unterrichtet werden. Das kann man relativ einfach überprüfen, denn es gibt auch in unserem Land Schulen, die seit Jahrzehnten so arbeiten. Ich selbst komme von einer Montessori-Schule und kann so auf einen großen Erfahrungsschatz zurückblicken. Aber es gibt auch Freinet-Schulen, Petersen- und Waldorf-Schulen. Letztere sind die, die ihren Namen tanzen können! Aber auch die, die Spaß am Lernen haben und deren Leistungen mit denen »normaler« Schüler ohne Schwierigkeiten mithalten können.
Wir benötigen keine Selektion mehr, sondern verantwortungsvolle und selbstständige Menschen. Share on X
Um nun aber wieder den Bogen zum Beginn des Artikels und Noten als Beurteilungskriterium in der Schule zu schlagen, folgendes Fazit:
Die Einordnung der Schülerleistung mittels Noten entspricht dem Selektionsgedanken und dem Glauben, dass in homogenen Klassen besser gelernt werden kann.
Der Nachweis allerdings, dass das richtig ist, wurde bis heute nicht erbracht.
Die Einteilung der Klassen als Jahrgangsklasse war bei der Einführung des Schulsystems durch Bismarck eine verwaltungstechnische Einteilung. Diese hat sich bis heute erhalten.
Schule ist der einzige Ort, wo Klassen nach Alter und Note eingeteilt werden. Share on X
Schule ist der einzige Ort, an dem diese Einteilung nach Alter und Leistung vorgenommen wird. In allen anderen Bereichen des gesamten Menschenlebens wird es nie mehr eine homogene Gruppe geben.
Leistung ist genauso individuell wie das Lernen individuell ist. Share on X
Leistungen sind individuell. Lernen ist auch individuell. Also sollte Schule ebenfalls diese Individualität unterstützen. Dazu muss allerdings zwingend die Blickrichtung von der Selektion und den damit verbundenen Noten weg, hin zum individuellen Lernen und einer anderen Leistungsbewertung erfolgen. Das kann eine Berichtsform sein, in der die Leistungen herausgestellt werden. Ansätze dazu gibt es in vielen Schulen. Der Lehrer wird zum Moderator und Helfer der Schüler. Dann ist individuelles Lernen möglich und dann erst ist auch Inklusion möglich.
Was fehlt, ist der politische Wille zur Umsetzung und das Verhaften an einer Tradition, die auf anderen Grundlagen aufgebaut hat und nichts mehr mit dem Lernen heute und den individuellen Anforderungen an den heutigen Menschen zu tun hat.
Der Traum von der homogenen Klasse ist ausgeträumt. Stellen wir uns der Realität. Share on X
Die Illusion von homogenen Klassen schwebt immer noch in vielen Köpfen herum, obwohl die Wirklichkeit zeigt, dass zum Beispiel in der Grundschule diese Homogenität nicht mehr vorhanden ist. Das sollte zum Umdenken führen und zu Änderungen des Unterrichts. Hier muss die Politik die Voraussetzungen durch Ausstattung und Fortbildung schaffen.
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