Gestern Mittag saß ich mit meiner Frau in einem Lokal um die Ecke, weil wir dort zu Mittag essen wollten. Die meisten Gäste saßen auf der Außenterrasse in der Sonne – viele um zu rauchen. Kurze Zeit später setzen sich an den Nachbartisch eine junge, unauffällige Frau mit Pferdeschwanz. Ihr gegenüber ein junger Mann, der nicht nur groß, sondern auch schlank war. Seine Frisur sah total verstrubbelt aus. Trotzdem konnte man den beginnenden Haarausfall gut erkennen. Auch eine Strubbelfrisur verdeckt nicht unbedingt alle kahl werdenden Stellen auf dem Kopf.
Wir kamen leider nicht umhin, die geführte Kommunikation am Nachbartisch mit anzuhören, da dort sehr laut gesprochen wurde.
Schnell war uns klar, er ist Lehrer. Die junge Frau kam kaum zu Wort oder gehörte zu den ruhigeren Zeitgenossinnen. Er war auf jeden Fall an einem Gymnasium oder einer Gesamtschule tätig, denn er berichtet kurz von der Lehrerbewertung durch Oberstufenschüler. Eine Nichtbewertung seines Unterrichts durch einen Strich in dem entsprechenden Feld mache ihm nichts aus, erklärte er seiner Gesprächspartnerin. Der Unterricht wäre in diesem Fall nicht de facto schlecht und das sei für ihn akzeptabel. Wäre es anders, würden die Schüler sicherlich »scheiße« dorthin schreiben.
»Freust du dich auf die Ferien?«
»Ja, ich bin halbwegs ausgepowert. Klassenfahrt, Ausflug, Zeugnisse und so weiter haben mich viel Kraft gekostet!«
»Musst du noch viel machen bis morgen?, fragte sie ihn.
»Nein, ich muss bei Paul noch die Note von gut auf befriedigend plus ändern. Die zwei hätte er im Grunde verdient, aber er hat zehn unentschuldigte Fehlstunden – das soll sich in seiner Note niederschlagen!«
»Geht das denn?«
»Ja, ich kann es durch die unentschuldigten Fehlstunden rechtfertigen!«
Bei vierzig Schulwochen und einer Unterrichtsstunde die Woche – leider hat er nicht gesagt, was er unterrichtet – hätte Paul ein Viertel aller Stunden unentschuldigt gefehlt. Bei zwei Unterrichtsstunden ein Achtel der Unterrichtszeit.
Egal wie ich es drehe und wende, wenn Paul in diesem Fall immer noch zwei steht, hat er trotz Fehlstunden eine gute Leistung erbracht. Ohne Fehlzeiten wäre seine Leistung unter Umständen noch besser gewesen und er stünde eins. Wer kann das aber mit Gewissheit sagen?
Was allerdings ganz klar zutage tritt ist, dass hier die Note zu Disziplinierungszwecken nach unten korrigiert werden soll. Nach oben hätte ich noch verstanden. Gute Leistung in verkürzter Zeit zu erbringen spricht für Paul.
Vorstellbar für mich ist auch, dass der Unterricht einfach langweilig war und Paul aus diesem Grund diese Fehlstundenzahl erreicht hat. Grundsätzlich hätte meines Erachtens früher eine Klärung herbeigeführt werden müssen. Es ist denkbar, dass es bei einer solchen Klärung nicht zu dieser Fehlstundenzahl gekommen wäre.
Eine Disziplinierung mittels der Note zeigt, wie subjektiv ohne wenig aussagefähig Noten doch sind. Die nachvollziehbare Willkür bei der Notenerstellung ist zu einem späteren Zeitpunkt nichtmöglich.
In einem Gutachten hätte der Umstand der Fehlstunden genannt werden können. Dazu der Hinweis, dass die Leistung bei regelmäßigerer Teilnahme noch besser hätte sein können.Die Disziplinierungsmöglichkeit wäre dadurch ebenfalls genommen.
Noten sagen nichts über die faktische Leistung eines Schüler aus. Noten werden bestimmt von Sympathie seitens des Lehrers, Tagesform des Schülers, Herkunft – wie viele Studien zeigen – und möglicher Willkür. Bei vielen Lehrerinnen und Lehrern verursacht die Notenvergabe regelmäßig ein zwiespältiges Gefühl, da ihnen klar ist, dass sie dem Schüler nicht gerecht werden können.
Sie erinnern sich doch sicherlich auch an eine ungerechte Note, die Sie in Ihrer Schulzeit erhalten haben – oder?